Warum wir Geschichte kochen
Gedanken über die Grenzen, Möglichkeiten und Methoden historischer Kulinarik.
History on a Plate arbeitet am Schnittpunkt von historischer Forschung, Esskultur und moderner Kochpraxis. Wir kochen nicht, um die Vergangenheit zu reproduzieren, sondern um sie besser zu verstehen.
Die Inszenierung der „Vergangenheit auf dem Teller“
Der Begriff „historische Rezepte“ vermittelt einem schon gleich, dass man mit solchen Rezepten Geschichte kochen kann, sozusagen Geschichte sinnlich erfahren kann.
Essen fungiert dann als Medium der Immersion. Geschmack, Geruch und Textur erzeugen Atmosphären, wecken Emotionen und stiften Identität. Sie erschaffen Welten, die wir für einen Moment sinnlich bewohnen können.
Dieses Phänomen begegnet uns auch in Ritteressen und Mittelaltermärkten ebenso wie in musealen Mitmach-Aktionen, Theater-Dinner-Shows, dem kulinarischen Kino oder den populären Fantasy-Kochbüchern von Game of Thrones bis Der Herr der Ringe.
Doch in diesem Effekt liegt eine potentielle Gefahr: In dem Versuch, Vergangenheit geschmacklich erfahrbar zu machen, romantisieren wir sie leicht und erzeugen dabei kulinarische Geschichtskulissen, die weniger historischen Realitäten als modernen Wunschbildern entsprechen.
Historiker:innen der public history haben dieses Prinzip als heritage performance beschrieben: Vergangenheit wird nicht rekonstruiert, sondern inszeniert. Die kulinarische Vergangenheit erscheint dadurch als ästhetisierte Erzählung, nicht als historische Wirklichkeit.
Gibt es überhaupt historische Rezepte?
Bei einem „Rezept“ denkt man eigentlich zuerst an eine übersichtliche und klar formulierte Schritt-für-Schritt-Anleitung aus einem Kochbuch. Die Begrifflichkeit „historisches Rezept“ erweckt den Eindruck, als würden uns solche Rezepte in uralten Kochbüchern bis heute überliefert werden und wir müssten sie einfach nur ablesen und dann nachkochen.
Doch das Gegenteil ist der Fall: Nur die Zusammenarbeit interdisziplinärer Forschungsfelder lässt Rückschlüsse auf die Frage nach der historischen Ernährung der Menschen überhaupt zu, denn wirklich in den allerseltensten Fällen gibt es tatsächlich überlieferte Rezepte.
Die Archäologie liefert Hinweise durch die Analyse von Pflanzen- und Tierresten, Bodenproben, Pollen oder Lipiden in Keramikgefäßen und untersucht zudem Herdkonstruktionen, Kochgeräte und materielle Kultur. Schriftliche Quellen wiederum bestehen fast nie aus Rezeptbüchern. Stattdessen begegnen uns Inventarlisten, Steuer- und Abgabelisten, Opfer- und Lieferregister, Klosterordnungen, Haushaltsbücher, Reiseberichte und Chroniken. Nur selten sind Kochtexte überliefert und wenn doch, sind sie voraussetzungsreich, ohne Mengenangaben, ohne genaue Anweisungen, adressiert an geübte Köchinnen und Köche und oft stark sozial selektiv.
Selbst wenn die Quellenlage umfassend wäre, bliebe ein entscheidendes Problem: Geschmäcker unterscheiden sich bekanntlich. Was als „richtig“ gewürzt oder als ausgewogen empfunden wurde, hat sich im Laufe der Jahrhunderte fundamental verändert. Wir wissen nicht, wie salzig, scharf oder bitter Speisen früher tatsächlich waren und welche sensorischen Qualitäten als angenehm galten.
Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der häufig unterschätzt wird: Unsere heutigen Lebensmittel entsprechen nur bedingt den historischen. Moderne Zuchtformen unterscheiden sich genetisch, sensorisch und strukturell stark von historischen Land- und Wildsorten. Gemüsesorten, Getreidearten, Obst und Fleisch stammen heute aus völlig anderen landwirtschaftlichen Systemen. Schon deshalb ist eine authentische Rekonstruktion historischer Gerichte im strengen Sinn unmöglich.
Was soll das Ganze hier dann überhaupt?
Man könnte aus dieser Problematik folgern, dass eine Auseinandersetzung mit historischen Rezepten zum Scheitern verurteilt ist. Wenn historische Gerichte niemals korrekt rekonstruiert werden können, so ließe sich argumentieren, führt jeder Versuch unweigerlich zu Inszenierung und Romantisierung – und genau das ist, zugespitzt formuliert, der traditionelle wissenschaftliche Konsens.
Es besteht breite Einigkeit darüber, dass die Erforschung historischer Ernährungsweisen wertvoll ist, dass aber Rekonstruktionsversuche zwangsläufig spekulativ bleiben müssen. Diese Vorsicht ist nachvollziehbar.
Doch zugleich liegt in der Beschäftigung mit historischem Essen ein enormes Potenzial. Essen bietet einen unmittelbaren Zugang zu Kultur, Identität und Geschichte. Es ist ein Medium, das nicht nur die Vergangenheit reflektiert, sondern auch die Gegenwart hinterfragt. Der Versuch, historische Speisen nachzuvollziehen – selbst wenn er unvollständig bleibt – erlaubt eine Perspektive auf Geschichte, die sinnlicher, körperlicher und reflexiver ist als die rein akademische Auseinandersetzung.
Der Ansatz von History on a Plate
In diesem Spannungsfeld positioniert sich History on a Plate. Wir teilen die wissenschaftliche Einsicht, dass historische Gerichte nicht zu 100 % authentisch rekonstruiert werden können. Doch statt diese Unmöglichkeit als Hindernis zu betrachten, verstehen wir sie als methodische Chance.
Die Annäherung an historische Speisen – fragmentarisch, spekulativ oder modernisiert – ermöglicht eine Form von sensory history, einer historisch informierten Sinneserfahrung. Diese Erfahrung ersetzt keine wissenschaftliche Analyse, aber sie macht Geschichte erfahrbar. Sie schärft unser Bewusstsein dafür, wie Kultur entsteht, wie sie sich verändert und wie sie sich in unsere Gegenwart einschreibt.
Bei History on a Plate geht es daher nicht darum, eine verlorene „authentische Küche“ zu rekonstruieren. Vielmehr nutzen wir historische Rezepte als heuristische Werkzeuge. Wir machen die Bedingungen sichtbar, unter denen historische Esskultur entstanden ist; wir hinterfragen unsere eigenen kulturellen Muster; wir begreifen Essen als historisches Medium, das uns erlaubt, kulturelle Selbstverständlichkeiten zu reflektieren.
Daraus ergeben sich grundlegende Fragenn: Warum würzen verschiedene Kulturen so unterschiedlich, und welche historischen Prozesse haben diese Geschmacksprofile geprägt? Wie wurden Pfeffer, Salz, Zucker, Kartoffeln oder Tomaten zu globalen Kulturprodukten? Warum verschwinden bestimmte Speisen aus unserer Küche, und was verrät das über Klassismus, Industrialisierung oder moralische Verschiebungen? Welche Rolle spielen Kolonialismus, Religion, Handel, Migration oder technologische Innovationen in der Geschichte des Geschmacks? Und warum lösen moderne Ernährungsstile identitätspolitische Konflikte aus?
Wenn wir historische Küche kochen, dann tun wir das also nicht, um ein Original wiederherzustellen, sondern um Fragen zu stellen und Antworten zu suchen.